Anmerkungen zur Ästhetik des Raumbildes

 

Höher entwickelte Formen des Tierreichs zeichnen sich dadurch aus, dass Sinnesorgane mit Fernwirkung stets paarweise vorhan-den sind. Solches dient selbstverständlich auch der Erhöhung der Sicherheit bei Ausfall  oder Beeinträchtigung eines Organs; die oft erhebliche Distanz zwischen den doppelten Organen kann jedoch durch das Sicherheitsargument allein nicht erklärt werden. Diese Distanzierung wird erst dadurch sinnvoll, dass sie entweder bei seitlicher Position der Augen einen größeren Wahrnehmungsbereich erschließt wie bei defensiven Pflanzenfressern, oder räumliche Informationen bei Raubtieren ermöglicht oder erleichtert. Zur Bestätigung: Dort, wo die Distanzierung keine Erweiterung der Wahrnehmung mit sich bringt – wie bei dem Geruchssinn –, entfällt sie.

Da der Mensch beim Sehen seine beiden Augen stets auf die gleichen Objekte richtet, dient hier die Zweiäugigkeit (Binokularität) der Gewinnung von Rauminformationen im Nahbereich bis zum näheren Fernbereich (etwa 50 m). In diesem Bereich ist die richtige Einschätzung räumlicher Gegebenheiten und Ereignisse die Voraussetzung zur Beurteilung von Größenverhältnissen, Geschwindig- keiten, Bedrohungen und Möglichkeiten. Nun gewinnen wir zwar unsere Rauminformationen nicht nur aus der Zweiäugigkeit - der Einäugige ist keineswegs hilflos -, aber sie vereinfacht und beschleunigt die räumliche Wahrnehmung, die wir ansonsten erhalten durch

       Größenvergleich von Objekten, deren Maße wir kennen

       Verdeckung entfernter durch nähere Strukturen

       Eintrübung des Betrachtungsmediums (Dunst, Nebel, Niederschlag)

       Bewegung von Objekten im Raum

       Bewegung des Beobachters in oder senkrecht zur Blickrichtung

       Scharfeinstellung der Augen (Fokussierung)

 

Die Binokularität erleichtert hierzu die Entfernungsabschätzung durch Winkelvergleich.

 

Die menschliche Psyche hat die Neigung, sinnliche Erfahrungen entsprechend ihrer Bedeutung und ihrer Folgen für den oder die Menschen unbewusst mit Lust- oder Unlustgefühlen zu verknüpfen. Ein wichtiges Instrument im Repertoire der Psyche mit dem Ziel, angenehme Erfahrungen zu suchen und unangenehme möglichst zu meiden, ist dabei die Ästhetik. So ist es kein Wunder, dass wir auch Räume und räumliche Gebilde einer ästhetischen Wertung unterziehen. Wenn wir z.B. eine Landschaft als schön empfinden, geht in diese Wertung nicht nur die Summe aller Elemente ein, sondern auch (wenn nicht gar überwiegend) ihre räumliche Konstel- lation zueinander. Bevor wir jedoch unsere Raumästhetik eingehender betrachten, bedarf der Begriff des Raumes noch Erläuterung grundsätzlicher Art.

Räumliche Wahrnehmung ist die einzige Sinneswahrnehmung von materiell nicht Existentem. Raum selbst ist immateriell, aber die Voraussetzung für die Existenz von Materie. Ohne Materie ist der Raum nicht nachweisbar und – wie moderne Kosmologen behaup- ten – auch nicht vorhanden. Wir nehmen den Raum nur wahr über den Umweg materieller Strukturen. Gegenstand einer Ästhetik des Raumes ist also die Bewertung von materiellen Strukturen, welche den Raum gliedern und damit erfahrbar machen.

Wollen wir nun räumliche Erfahrungen oder Vorstellungen anderen vermitteln oder stets reproduzierbar über sie verfügen, benötigen wir ein Medium, um sie abzubilden. Die verschiedenen Abbildungsmöglichkeiten lassen sich unterteilen in      

   a) dreidimensionale: vergrößernde oder verkleinernde Modelle (Architektur, Plastik, Atom- und Molekülmodelle, etc.), Hologramme

   b) zweidimensionale: perspektivische Darstellungen auf Bildern und Zeichnungen, Fotografien.

Die heute existierenden dreidimensionalen Abbildungsmöglichkeiten sind meist sehr aufwendig und schwer handhabbar oder verfügbar. Ihre Anwendung ist daher mit Ausnahme der Kleinplastik ausschließlich stationärer Art. Andererseits vermitteln auch zweidimensionale Darstellungen in den meisten Fällen ausreichende Informationen zum Verständnis der räumlichen Verhältnisse. Man denke etwa an die suggestive Räumlichkeit der Gemälde von S. Dalì, von dem auch ein stereoskopisches Gemälde, mit Spiegel zu betrachten, existiert. Die Flachbildfotografie setzt das Mittel der Unschärfe ein, um Raum darzustellen, der Film zusätzlich die Bewegung der Kamera oder Bewegungen im Raum.

Eine Zwischenstellung zwischen zwei- und dreidimensionaler Darstellung nimmt die Stereoskopie ein. Basierend auf der Binokula- rität wird jedem der beiden Augen jeweils ein zweidimensionales Teilbild präsentiert. Die beiden Teilbilder werden erst  im Gehirn zu einem Raumbild mit pseudodreidimensionaler Wirkung kombiniert, sofern die handwerkliche Perfektion solches zulässt. Die extreme Künstlichkeit dieses Mediums – bedingt durch den Zwang, die Teilbilder den Augen getrennt zuführen zu müssen -, die ungewohnte und damit anstrengende  Art der Betrachtung, welche sich am ehesten als eine Art kontrolliertes Schielens beschreiben lässt - Fokussierung und Konvergenzwinkel werden entkoppelt -, die Umständlichkeit der Präsentation und die handwerkliche Sorgfalt, die dabei aufzuwenden ist, soll die Darbietung nicht zur Augenfolter missraten, all das lässt die Stereoskopie ein Schattendasein unter den Medien führen, der breiteren Öffentlichkeit bestenfalls als Jahrmarktsensation bekannt.

All diesen Einschränkungen zum Trotz ist die Stereoskopie die zur Zeit beste Möglichkeit, reale wie artifizielle Räumlichkeiten auch in größerer Anzahl in praktikabler Verfügbarkeit darzustellen. Da sich meine Ansichten zur Ästhetik des Räumlichen aus der Beschäfti- gung mit der stereoskopischen Fotografie konkretisierten, möchte ich sie nun in der Folge anhand dieses Mediums darlegen.

 

Was stellt ein stereoskopisches Bild dar? Die minimale Konfiguration sind zwei Punkte oder zwei vertikale Ebenen in unterschiedli- cher Entfernung. Eine solche extrem reduzierte Räumlichkeit bedarf allerdings einer starken Motivierung durch den Bildinhalt, um als Raumbild zu beeindrucken. Da ich selber (allerdings selten) durchaus vorzeigbare Bilder mit nur zwei Raumebenen produzierte, kann ich einen derartigen räumlichen Minimalismus  nicht generell als unfruchtbar bezeichnen. Er muss jedoch die Ausnahme von der Regel bleiben, wollen wir Kriterien für überzeugende Raumbilder entwickeln, genauso wie sein Gegenteil, der räumliche Maximalismus, der mit einer wirren Fülle dichter, dem Unterholz vergleichbarer Strukturen das Bild räumlich überlädt, sodass das Auge führungslos umherirrt (räumliches Rauschen). Der für die Stereoskopie ästhetisch fruchtbare Bereich liegt – von den seltenen Ausnahmen abgesehen – zwischen diesen beiden Extremen.

Wenn ich dem geneigten Leser nunmehr vier Thesen vorlege, um ein ästhetisch überzeugendes Raumbild näher einzugrenzen, bin ich mir bewusst, dass es nichts gibt, was nicht doch irgend jemand als schön empfindet, und dass solche ästhetische Kriterien letzt-lich nur meine eigenen sind. Ich kann noch nicht einmal ausschließen, dass ich selber Raumbilder als hervorragend einstufe, die meine Kriterien grob missachten, sofern ich nur die Aussage als zwingend empfinde. Solche Bilder werden aber seltene Ausnahmen sein.

       Meine 4 Thesen:

1) Ein überzeugendes Raumbild stellt einen hinreichend leeren Raum dar.

2) Zu einem überzeugenden Raumbild gehört zusätzlich zu der Bildidee eine Raumidee, welche zur Bildidee in förderlicher  

    Beziehung steht.      

3) Ein überzeugendes Raumbild kennzeichnet die ausgewogene räumliche Verteilung der Bildelemente. Unausgewogenheit          bedarf der Motivation.

         4) Ein überzeugendes Raumbild gibt seine Raumidee vollständig erst als Raumbild preis und nicht schon als Flachbild. Kann 

             die Raumidee adäquat auch als Flachbild vermittelt werden, ist das stereoskopische Bild tautologisch, damit entbehrlich.

 

Erläuterungen zu den 4 Thesen:

Zu 1) Ein überzeugendes Raumbild zeigt überwiegend leeren Raum, der allenfalls im Hintergrund das Bild verriegelnde Begrenzun-gen aufweist. Massive Bildelemente, welche vor allem im Vordergrund, womöglich noch dazu in der Bildmitte das Raumbild „zustop- fen“, konzentrieren die Aufmerksamkeit auf einen räumlichen Teilbereich, und sind als Flachbild meist überzeugender. Günstig ist ein Raumaufbau, welcher das Bild vor allem im Bereich der Bildmitte zum räumlichen Hintergrund hin öffnet, und Strukturen im Vorder- grund eher an die Peripherie des Bildes verlagert. Ausnahme: Wenig massive Elemente, die weit in den Vordergrund hineinragen (z.B. der berühmte Giraffenhals) sind günstiger im Bildinneren.

Zu 2) Die wichtigste Forderung an ein Raumbild ist zunächst einmal das Vorhandensein einer Raumidee. Diese darf ferner nicht von der Bildidee erdrückt werden, genau so wenig wie die Bildidee durch eine allzu komplexe Raumidee. Beide sind im Idealfall annä- hernd gleichwertig und verstärken sich wechselseitig in ihrer Wirkung. Den erfahrenen Stereoskopiker kennzeichnet ein geschulter Blick für das, was ich als „stereoskopische Situation“ bezeichnen möchte, was heißt, zunächst interessante räumliche Motive zu fin-den oder herzustellen, danach den bestmöglichen Beobachtungspunkt zu finden. Dabei können oft wenige Zentimeter über die Raumwirkung eines Bildes entscheiden. Eine an sich gute Raumidee darf die Bildidee nicht beeinträchtigen. So ist z.B. etwas Grünzeug im Vordergrund eines Architekturmotivs, bloß um für ein „interessantes Motiv“ einen Vordergrund zu haben, der Bildidee selten förderlich. Anders sieht es natürlich aus, wenn die Bildidee auf den Widerspruch dieser beiden Elemente  hinweisen möchte und sich dieser Widerspruch auch in der Raumidee manifestiert.

Ungünstig für die Raumwirkung sind räumlich gestaffelte Strukturen, vertikale Gitter, überhaupt ein Überwiegen von Elementen, die zur Blickrichtung einen Winkel von annähernd 90° aufweisen, günstig hingegen sind räumliche Achsen mit kleinem Winkel zur Blick- richtung, vom Vorder- zum Hintergrund schwingende Linien, sowie „leichte“ Gebilde, die sich über den gesamten Raumbereich erstrecken.

Zu 3) Hier geht es um die Gewichtung des Raumkontinuums vom Nah- zum Fernbereich. Extremes Gleichgewicht lässt die Augen orientierungslos im Raum umherirren, extremes Ungleichgewicht konzentriert sie auf einen Raumbereich. Das überzeugende Raum- bild ist auch hier zwischen den Extremen zu finden. Es lässt die Augen im gesamten Raumbereich hin- und herschweifen, bietet aber auch verdichtete und bevorzugte Bereiche, Ruhe- und Orientierungspunkte, behält dabei aber prinzipiell den antihierarchischen Aspekt, keine eindeutige Dominanz eines Raumbereiches zuzulassen. Daraus leitet sich übrigens auch das Tiefenschärfegebot für den – soweit möglich – gesamten Raumbereich her. Für das „Gewicht“ der einzelnen Raumbereiche maßgeblich ist dabei nicht ihre flächenmäßige Ausdehnung, sondern vielmehr die Zeit, die die Augen in ihnen verweilen. Da das Näherliegende in uns stets größere Aufmerksamkeit weckt als das Entferntere, wird der Vordergrund vom Auge in der Regel bevorzugt, und darf daher flächenmäßig getrost unterrepräsentiert sein, ohne es damit auch bedeutungsmäßig (Verweildauer der Augen) zu sein. Von großer Bedeutung für ein überzeugendes Raumbild ist weiterhin die Verteilung der Raumstrukturen in der Bildfläche. Eine zu eindeutige Bevorzugung eines Raumbereichs in einem größeren Bildsegment (z.B. Vordergrund unten, Hintergrund oben, was bei Landschaftsaufnahmen naheliegt) ist der Raumwirkung dabei genau so abträglich wie zu gleichförmige Verteilung der Raumbereiche in der Bildfläche. Das ideale Raumbild vermittelt den Eindruck einer räumlichen Balance, welche die Bevorzugung eines Raumbereiches in einem Bildseg-ment kompensiert durch Gegengewichte in anderen Bildbereichen.

Zu 4) Ein überzeugendes Raumbild vermeidet einen Bildaufbau, bei dem schon das Flachbild die räumlichen Verhältnisse allzu deut- lich werden lässt, z.B. nicht durchbrochene oder verdeckte Ebenen oder Flächen, Motive mit starker perspektivischer Wirkung oder mit räumlichen Iterationen (etwa eine monotone Straßenschlucht). In solchen Raumbildern bleibt der Stereoskopie lediglich die Funk- tion eines „Raumlamettas“, des medialen Kitzels, welcher sich schnell verbraucht. Längerer Betrachtung halten hingegen solche Raumbilder stand, welche als Flachbild verwirrend, wenn nicht gar unverständlich erscheinen, zumindest aber einen wichtigen Aspekt ihrer Bild- und Raumidee zurückbehalten und die Stereoskopie somit „erzwingen“. Das gilt für komplizierte und vielschichtige Raumstrukturen, des weiteren für eine Darstellung von Räumlichkeit, die wir als unnatürlich empfinden, weil sie unseren Sehge-wohnheiten nicht entspricht (z.B. Gigantismus und Liliputismus, welche beide abhängig sind von der gewählten unnatürlichen stereoskopischen Breite, d.h. dem seitlichen Abstand auf einer Stereoschiene der beiden Teilbilder). In Besonderheit zwingend ist die Stereoskopie, sofern sich Bild- und Raumidee zumindest in Teilaspekten widersprechen (siehe These 2) und sich dadurch Illusionen unmöglicher Räumlichkeiten ergeben. Hier beginnt ein weiteres bislang noch kaum erschlossenes Feld des Spiels mit dem Raum, dessen Techniken und Möglichkeiten zu erläutern ich mir an dieser Stelle ersparen muss, da solches über die ästhetische Thematik weit hinausgreifen müsste.

 

Bislang habe ich nur die aufnahmeseitigen Verhältnisse besprochen, nicht aber die Wiedergabe, welche nicht unproblematisch ist. Hier muss ich zunächst den Begriff des Scheinfensters einführen. Technisch gesehen ist das Scheinfenster die vertikale Bildebene, wo die beiden Teilbilder konvergieren, d.h. bei einer Anaglyphe (Rot/cyanbild) keine seitliche Divergenz zeigen. Man kann sich das Scheinfenster als reales Fenster vorstellen, durch das man hinausschaut. Mit dem linken Auge sieht man dann etwas weiter nach rechts hinaus und umgekehrt mit dem rechten. Alles, was hinter dem Fenster liegt, darf nicht  vom Bildrand abgeschnitten vor dem Fenster liegen. Andererseits darf durchaus etwas unabgeschnitten durch das Fenster hineinragen (der „Giraffenhals“), es ist ja nicht verschlossen. Durch Veränderung des Scheinfensters nach vorne bzw. nach hinten entsteht auch ein leichterer Effekt von Gigantis-mus und Liliputismus, da unsere Beurteilung der Größenverhältnisse abhängen von der scheinbaren Entfernung der Gegenstände vom Scheinfenster. Dabei sind die Möglichkeiten begrenzt, soll es nicht zum Bildzerfall kommen. Der tritt ein, wenn die seitlichen Abstände in beiden Teilbildern so groß sind, dass sie durch kontrolliertes Schielen nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Der Bild- zerfall kann vor allem ein Problem bei Nahaufnahmen werden. Ein unstrukturierter unbedeutender Hintergrund, am einfachsten in schwarz, ist da das Mittel der Wahl. Für die früher allein üblichen Landschaftsaufnahmen im Bereich von 3 Meter bis Unendlich legten die Noppen der genormten Rähmchen das Scheinfenster automatisch auf 3 Meter Entfernung. Für Aufnahmen im ferneren Nahbereich gab es einen prismatischen Nahvorsatz, der das Scheinfenster näher legte. Bei Makroaufnahmen musste dann die Schere und Klebstoff zur Hilfe genommen werden. Aber hier ist nicht der Platz für technische Erläuterungen.

Rahmungsfehler sind häufig bei nicht sorgfältiger Montage der Teilbilder, die den Genuss der Stereoskopien beeinträchtigen und die Augen unnötig quälen. Hier treten vor allem auf: der Höhenfehler, der meist noch einfach zu beheben ist, und der Verdrehungsfehler (tilt), der auch die Räumlichkeit verzerrt, und schwieriger zu beheben ist. Diese Fehler werden bei einer Anaglyphe deutlich sichtbar.

 

Eines muss letztlich klar sein: Das ideale Raumbild gibt es nicht, höchstenfalls Näherungen, und da gibt es schon genug zu beach-ten. Ich habe die obigen Kriterien entwickelt, nachdem ich zuerst drauflos nach der Methode „try and error“ fotografiert habe, und danach das Allermeiste aussonderte.

 

Diese Anmerkungen habe ich für den Kurs in 3D-Fotografie verfasst , jüngst ergänzt durch die Wiedergabeproblematik.