Wissenschaft und Sexualforschung

 

 

 ....höchste Freude, .....von mir nichts zu wissen   (Li Bai,Tang-Dynastie um 750)

Wissenschaftliches Denken beruht wie alle zivilisatorischen Hervorbringungen auf Konventionen, welche im wissenschaftlichen Alltag im Wesentlichen akkumulativ sind. Seine wichtigste Forderung ist das Prinzip der Falsifizierbarkeit. Dieses findet seine Entsprechung in der frühkindlichen Erfahrung: Was die Mama hundertmal wiederholt hat, ist die Wahrheit. Dieses Prinzip soll vor Scharlatanerie schützen, tut es auch in Grenzen, aber eine Rundumversicherung gegen Dummheiten ist es nicht. Wer sich auf diese Konventionen konditioniert hat, nimmt in Kauf, der Betriebsblindheit zu verfallen. Ich möchte den Wert dieser Vorgehensweise, vor allem in den Natur-wissenschaften, keineswegs in Frage stellen, aber die wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche der Erkenntnis beruhten auf einem intuitiven Heureka-Erlebnis von Exzentrikern wie Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton, Darwin, Mendel, Einstein, Bohr, von denen einige noch nicht einmal „vom Fach“ waren. Zudem wurde die Entwicklung der Menschheit zu immer größeren Zusammenschlüssen mit Arbeitsteilung mit der Einführung von Tabus erkauft. Darunter hatten vor allem die Humanwissenschaften zu leiden, welche lange Zeit, und auch heute noch, vor allem mit religiös verankertem Nicht-wissen-wollen zu kämpfen hatten. So fällt auf, dass Sexualität bei allen Philosophen bis weit ins 19. Jahrhundert überhaupt nicht Gegenstand der Betrachtung werden durfte. Es handelt sich immerhin um die Grundlage unserer Existenz.

So sehr auch die Alten Griechen jeden Stein umdrehten in der Hoffnung, den Grund ihres Elends, die kriegerische Streitsucht und den Bestrafungswahn, zu finden, die Sklaverei und die flagellantischen Rituale bei der Erziehung der Epheben stellte kein Philosoph jemals in Frage.

Nach der langen historischen Phase der Betrachtung der Sexualität unter zunächst dämonischem, danach forensischem gut/böse Aspekt, entstand die seriöse Sexualforschung erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Form der Befragung der sexuellen Praktiken. Die sexuellen Fantasien, welche meistens nicht, aber bei Gelegenheit (z.B. Krieg oder Trunkenheit) dann doch realisiert werden, traten dabei nur ansatzweise zutage. Es blieb dadurch verborgen, dass „Das Reich der Dämonen“ (Frank Thiess) in uns allen beheimatet ist. Das würde bedeuten, dass der Begriff „Heiligkeit“, welcher Glaubensinhalte jeder Diskussion entziehen soll, nur Schwindel im Dienste der Einschüchterung, Machtgewinnung, oder auch des Selbstbetrugs sein kann.

     ignoro, ignoramus, ignorabamus, ignorabimus: a-Konjugation

 

Nachtrag:

 

Angesichts der Corona-Krise schildert eine Schriftstellerin recht exemplarisch ihr Problem mit der Verdrängung: "Emotional hat sich irgendwas in mir heruntergefahren. Wenn ich ernsthaft darüber nachdenken würde, was da draußen los ist, die schrecklichen Geschichten wirklich fühlen und aufnehmen würde, wäre ich ein absolutes Wrack. Deshalb glaube ich, dass in mir eine Art Schutzschild hochgefahren ist. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich genau dann, wenn er unten ist, gute Dinge schreibe."

Zitat aus Spiegel 19/2020