Hasstiraden

 

            Tiraden in Bethel

 

Die ersten Tiraden begegneten mir im Alter von 5 Jahren. Ein Stockwerk unter uns wohnte im Verwaltungsgebäude von Bethel / Bie-lefeld die Familie von Pfarrer K.. Ich war mit seinem Sohn Heinrich befreundet und durfte in die Wohnung, solange nur seine Frau zugegen war, die wir Kinder Tante Paula nannten. Sobald der Pfarrer nachmittags nach Hause kam, drängte mich mein Freund in höherem Auftrag aus der Wohnung. Heinrich selber musste dableiben und manches stumm über sich ergehen lassen. Das weckte meine Neugier, zumal es auch nie zu einem persönlichen Kontakt mit seinem Vater kam, und ich lauschte an der Wohnungstür. Da hörte ich dann, wie er loslegte: Er musste dann jedesmal seinen aufgestauten Ärger über die Verwaltungssitzungen bei Tante Paula abladen. Sie war oder fühlte sich ständig krank, und war oft gegenüber Mutter und Großmutter am jammern. Zudem weckten Ks. Predigten meine Aufmerksamkeit. Während andere Pfarrer Erwünschtes, d.h. Erbauliches, von sich gaben, was den Kirchenschlaf nicht weiter störte, las er der Gemeinde die Leviten: Heuchelei, Bigotterie und Gutmenschentum-Getue prangerte er unbarmherzig an, lediglich Höllenfeuerpredigten waren in Bethel unerwünscht, es blieb bei einer Strafpredigt.

Nach dem Gottesdienst stand Großmutter mit anderen älteren Frauen im Kirchhof beisammen, und eine meinte: Wenn ich gewusst hätte, dass Pfarrer K. predigt, wäre ich nicht gekommen. Eine andere entgegnete: So ganz unrecht hat er ja nicht, aber musste er das unbedingt so deutlich sagen?

Nach dem Wegzug von Bethel erfuhr ich von der Großmutter, die dort geblieben war, dass Pfarrer K. in seinen Fünfzigern einem schnellen Tod erlegen war. Seine Witwe soll danach regelrecht aufgeblüht sein - keine Krankheit mehr -, und ihren Ehemann lange Jahre überlebt haben.

 

 

            Tiraden im Gymnasium

 

Der zweite „Fall“ betraf auch mich im Mathe-Untericht. Dort hatten wir einen Lehrer mit dem Spitznamen „der Knochen“. Er hatte das Talent, überall dort aufzutauchen, wo „etwas los war", obwohl er mit klein bemessenen Schritten ohne jegliche Eile daherkam. Man konnte dann hinterher Unangenehmes erwarten. Das erfolgte jedesmal nach dem gleichen Muster: Wenn ein Delikt seinen Zorn erregte, wurde er erst einmal stumm. Auf leisen Sohlen -- er trampelte nie -- ging er zwischen den Pultreihen auf und ab. Dabei ver- färbte sich langsam sein Gesicht zunächst in Richtung kreidebleich, nahm dann einen grünlichen Schimmer an. Sein Hassvulkan hatte noch nicht den nötigen Druck aufgebaut. Spontaneität gab es bei ihm nicht.

Die ganze Klasse erwartete jetzt den Ausbruch. Zuerst kamen einzelne Brocken von Vorwürfen geflogen, dann wurde er langsam lauter und schneidend, aber brüllen tat er nie. Endlich ergoss sich dann der Lavastrom des Sündenregisters über die Delinquenten. Auch ich geriet in die Gefahrenzone, weil ich die Situation gar zu komisch fand, und das Lachen nicht unterdrücken konnte. Oft setzte dann erst die Schulklingel dem Erguss ein Ende, aber nicht sofort. Er konnte sich ja nicht von der Klingel vorschreiben lassen, wann seine Tirade zu beenden sei. Es ging dann noch zur Strafe ein Teil der Pause dafür drauf.

Mit meinem Vater war er befreundet.

 

 

            Eine Hasstirade im Stuttgarter Westen

 

Abends ging ich zu meinem Studio in der Gutenbergstraße. Unter einem Erker im 1.Stock, ein Fenster war offen, hörte ich einen Mann eine Hasstirade (mit stummer Partnerin) abspulen. Ich konnte nur wenige Brocken verstehen, aber es war die übliche Diktion. Nach zehn Minuten ging ich weiter.

 

           

             Die besten Hasstiraden im Deutschen Bundestag

 

Höhepunkte der Debatten im Bundestag waren immer die Tiraden von Herbert Wehner, die er mit wutverzerrtem Gesicht ablieferte, wobei dessen Asymmetrie die Wirkung noch steigerte. Gar zu gerne hätte ich seine Auftritte als gefürchteter Zucht-meister vor versammelter Fraktion erlebt, da waren aber Mikrofone und Kameras ausgesperrt. Er hatte allerdings quasi als Kompensation eine fürsorgliche Ader, die in einem Beitrag gezeigt wurde, wo er mit schier unendlicher Geduld sich um die Probleme eines einfachen Arbeiters kümmerte und ihm komplizierte politische Vorgänge erklärte."Da war aber auch eine Kamera dabei", könnte man dagegen halten. Es wirkte auf mich schon sehr echt, ich möchte es nicht als Kompensationsgetue abtun. Der Hass hat seine eigene Fürsorglichkeit. 

 

 

              Hasstiraden in der Literatur

 

Der Großmeister der Hasstirade auf hochgeistiger Ebene war sicher Thomas Bernhard. Bei ihm lässt sich am besten die Agogik einer Hasstirade studieren.

In seinen Werken „Gehen“ und „Der Untergeher“, die mir vorliegen, fällt auf, dass es dort keinen einzigen Absatz gibt: Die Tirade läuft durchgehend ohne Besinnung ab, man kann sagen atemlos. Es gibt nur wenige Argumente, die dafür um so öfter wiederholt werden. An Behauptungen, die auch ständig wiederholt werden, mangelt es nicht. Die Suada läuft nach dem Prinzip ab: Was die Mama 100 x wiederholt hat, ist die Wahrheit. Das Schauspiel „Heldenplatz“ ist auch eine einzige Tirade mit verteilten Rollen. Das Theaterstück „Minetti“ zeigt die Dramaturgie einer Hasstirade am deutlichsten, in sofern hier eine stumme Figur die Rezipientin der Tirade darstellt. Ein Dialog findet nicht statt, er ist verboten. Eine Tirade ist im Prinzip unendlich. Es gibt weder Höhen und Tiefen noch eine Entwicklung, noch ein Ziel. In der Praxis wird sie allerdings durch den Harndrang beendet. Fortsetzung folgt, ist dann aber kein würdiger Abschluss, die Besinnung auf eine Pflicht ist das Mittel der Wahl. Nach der Erleichterung ist dann der seelische Druck so reduziert, dass eine Fortsetzung nicht mehr möglich ist. Keineswegs soll eine Tirade der Herbeiführung einer körperlichen Auseinandersetzung dienen, sie fände damit ein sofortiges Ende, was einer Niederlage gleichkommt. Tiradeure sind keine Sprinter, sondern Meister der Langstrecke. Auffällig ist, dass die Adressaten der Tirade nicht in Versuchung geraten, sich ihr zu entziehen, sondern auch zu Langstrecklern werden. Wie das Kaninchen vor der Schlange sind sie nicht in der Lage sich zu rühren. Ein vorzeitiger Abgang würde ihre Leidensfähigkeit erschüttern, und sie mit Versagensängsten peinigen. Eine Predigt, die wie früher mehrere Stunden dauern kann, darf man ja auch nicht vorzeitig verlassen, ohne einer Schändlichkeit geziehen zu werden.

 

Ein „bissiger Rundumschlag“, diese Bezeichnung finde ich in dem Umschlag von dem Roman „Für Herrn Bachmanns Broschüre“ von Carl-Johan Vallgren. In seinem Text findet sich zwar hin und wieder ein Absatz, aber die Agogik ist die gleiche. Es gibt in Schweden nichts, was seine Zustimmung finden könnte. Es gibt auch keine protestantische Schwarz-weiß-Malerei, alles ist schwarz eingefärbt.

 

 

          Theoretisches

 

Hier halte ich es für angezeigt, Hasstiraden von Wutausbrüchen abzugrenzen. Beide sind Monologe, speisen sich aber aus unterschiedlicher Gemütslage. Erwiderungen sind unerwünscht und verlängern nur den Ablauf.

 

Hass ist ein Langfrist-Phänomen. Eine Hasstirade ist dem entsprechend ein kontrollierter Vorgang von längerer Dauer mit diszipli-niertem Ablauf. Sie besteht aus gedanklich vorgefertigten argumentativen Bausteinen, die in mehrfacher Ausfertigung beliebig oft aneinandergereiht werden. Körperliche Auseinandersetzungen sind dabei unerwünscht, und würden die Tirade sofort beenden. Man könnte sie eine „Kunstform“ nennen.

 

Wut in der Form von Ausrastern ist dagegen ein spontaner Vorgang von unkontrolliertem chaotischem Ablauf, begleitet von ekstatischen körperlichen Ausbrüchen, welche man bei Häufigkeit als Tobsucht bezeichnet.

Das treffendste Beispiel dafür sind die Ausraster von Klaus Kinski, welche im Internet vielfältigen Niederschlag gefunden haben, sodass ich hier nur den Anlass anführen will. Es war sein Monolog „Jesus Christus Erlöser“, was auf einen Fall von Masochismus rückschließen lässt. Werner Herzog, der ihn von der Schule her kannte, berichtete, dass er sich bei einem seiner Anfälle in die Toilette eingesperrt hatte, wo er dann das Inventar stundenlang zertrümmerte, sodass man die Überreste durch ein grobes Sieb hätte werfen können.

 

Die Provokation ist eine Form der negativen Aggression mit dem Ziel der Herbeiführung von Streitereien.

Beim Tischtennisspiel im Hinterhof mit einem Jugendlichen tauchte ein vielleicht 8-jähriger uns unbekannter Knirps plötzlich auf, und begann sofort uns zu beschimpfen und zu beleidigen. Am Anfang amüsierte ich mich köstlich, es war gar zu komisch. Als er aber gar nicht mehr aufhörte, wurde es dann doch langweilig, und er störte unser Spiel. Es war aber nicht einfach ihn loszuwerden, da er unter der Tischtennisplatte in Deckung ging. Schließlich übernahm mein jugendlicher Partner die Aufgabe, ihn energisch zu vertreiben, was nicht leicht war. Ich selber durfte ja nicht, wegen „der arme Junge!“. Er tauchte nie wieder auf. Unser Verhalten entsprach wohl nicht seinen Erwartungen.

 

Diese drei Phänomene sind als einseitige Vorgänge (Monologe) abzugrenzen von dem „Normalfall“ der dialogischen Streitsucht.

 

Der Endlos-Streit in der Ehe, wie er sich bei Edward Albees Schauspiel „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ zwischen einem akademischen sadomasochistischem Ehepaar abspielt, welches, um richtig in Fahrt zu kommen, als Publikum ein anderes jüngeres Ehepaar benötigt, dem es bei viel Alkohol einen Ehestreit vorführt, ist hier ein Ritual, welches die Ehe zusammenhält, der Entladung dient, die Langeweile vertreibt, aber sonst weiter zu nichts führt.

Unvergesslich bleibt mir die Erinnerung an die Aufführung des Stückes im Theater- und Vortragsring in Dillingen im Alter von etwa 10 Jahren. Meine Mutter wollte nicht mitkommen, da sie Migräne hatte. Damit die Karte nicht verfiel, durfte ich mit Vater hingehen. Er hatte keine Ahnung, was da geboten wurde, und war durch die Aufführung peinlich berührt, war aber auch wie ich so fasziniert, dass er bis zum Ende blieb. Es muss mich und ihn an die täglichen Streitereien gemahnt haben, bei denen er die Rolle eines Polterers spielte.

                                                                                                                                                               

 

               Die Macht des Schweigens

 

Was den Produzenten der Hasstiraden und Wutausbrüchen entgeht bzw. entgehen muss: Das Schweigen ist eine genau so starke Waffe wie die Tirade. Es lässt den Tiradeur ins Leere laufen, während er sich der Luftüberlegenheit als Herrscher der Bühne sicher wähnt.

Ich selbst habe diese Macht im Alter des Heranwachsenden gegenüber meinem Vater getestet, indem ich ihn zwei Wochen lang angeschwiegen habe. Das hat ihn deutlich beeindruckt, wie mir meine Mutter versicherte.

Die Tirade offenbart, das Schweigen verheimlicht. Der Schweigende macht aus seinem Herzen eine "Mördergrube". So erfährt man bei E. Albee nicht, was das junge Ehepaar denkt. Es hockt fasziniert auf der Bühne und kann sich nicht losmachen. Es könnte sich ja auch vorzeitig verabschieden.

Ich sehe eine deutliche Entsprechung zu W. Buschs Comic "Der Virtuos". Dort hat der stumme Zuhörer das letzte Wort und ist somit auch letztlich der Herr des Inkassos.

Bei Vallgren gibt es keine Antwort von Herrn Bachmann, dem  Adressaten der Broschüre. Die Tirade läuft ins Leere.

Am deutlichsten wird die Macht des Schweigens im Verhältnis von  Kinski und Herzog. Während Kinski die Rampensau spielt, zieht Herzog still im Hintergrund die Fäden. In seinem Dokumentarfilm "Mein liebster Feind" lässt er schweigend Kinskis Pöbeleien zu, um dann, wenn der Geysir nachlässt, die Falltür mit der Aufschrift Tagesordnung zu öffnen, und trocken die Fortsetzung der Drehar-beiten anzumahnen. Er schildert auch, wie er bewusst mit einer Nichtigkeit - es geht ja kaum um etwas anderes - einen Ausbruch provozierte, weil Kinski erst danach in der Lage war, als Schauspieler den stummen Hasser in der Intensität zu geben, die Herzog wünschte.

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist das Schweigen allzeit präsent. Nicht nur der Staat hütet jede Menge Geheimnisse mit Verschwiegenheitsgelübden und Maulkörben, jeder Berufsstand, jeder Clan bis hin zur Mafia hat seine "Omertà", jeder Familien-verband pocht auf seine Intim- oder Privatsphäre (privat: der Öffentlichkeit geraubt). Überall, wo es etwas zu zeigen gibt, gibt es auch etwas zu verbergen.

Das Schweigen ist der Mehltau der Hasstirade. Da die Rückmeldung fehlt, ist die Paranoia ihr ständiger  Begleiter. Höchste Zeit, dass auch ich in dieser Angelegenheit schweige, damit ich nicht in eine der vielen Fallen tappe.

 

Aber eine Frage bleibt mir noch offen: Was ist eigentlich mit den Frauen? Bei ihnen sollte es im Sinne der Gleichberechtigung auch Tiradeusen geben, nur sind sie mir noch nie begegnet, weder im Leben, noch in der Literatur. Liegt wohl an mir.

 

                                                                                                                                        2017, ergänzt 2023